Der Begriff "Zeitenwende", den Bundeskanzler Scholz in seiner programmatischen Rede im Bundestag 2022 geprägt hat, wird wohl in die Geschichte unseres Landes eingehen und birgt sowohl international als auch national viel politischen Sprengstoff. "Zeitenwende" ist die Reaktion auf die seit über einem Jahr andauernde militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine, die schreckliche Opfer gefordert und durch Raketenbeschuss aus Russland große Verwüstungen in der Infrastruktur der gesamten Ukraine angerichtet hat und tagtäglich anrichtet. Jan Ole Arps schreibt dazu: „Die Zerstörung der Energieversorgung ist Terror gegen die Zivilbevölkerung und als gezielter Angriff auf zivile Objekte ein Kriegsverbrechen. Allerdings keins, auf dem Russland ein Monopol hat. Die Türkei greift die  Energienetz in den kurdischen Regionen Nordsyriens an. Saudi-Arabien zerstörte 2015 die zivile Infrastruktur im Jemen. Die Nato setzte die Bombardierung 1999 im Krieg gegen Serbien ein. Ein Nato-Sprecher sagte damals, es zeige, dass die Nato die Versorgung abschalten könne, wann immer sie wollte. (Freitag, Nr. 2, Januar 2023, Seite 3) Dies entlastet Russland nicht von seinen Kriegsverbrechen. Aber es zeigt die Logik des Krieges, der leider nicht so schnell enden wird. Millionen Menschen – vor allem Ukrainer mit Kindern – waren und sind auf der Flucht, viele haben auch in Deutschland Unterschlupf gefunden, wie wir wissen...
 
Ich habe meine politischen Ansichten durch mein Poster zum Thema dargelegt. Das auch in einer Ausstellung aufgenommen wurde. Die Ukraine hat nach dem Völkerrecht, welches nicht pazifistisch ist – also nicht nur das moralische Recht –, sich zu verteidigen. Und wie wir wissen, hat die ukrainische Armee in letzter Zeit bedeutende Gebiete zurückerobert, darunter auch Städte wie Cherson, weshalb viele Expert*innen bereits von einer möglichen Niederlage Russlands sprechen. Wie wir wissen, hat die neuerliche ukrainische Offensive bereits kleinere Fortschritte gebracht - die Russen haben sich in vielen Wällen eingegraben -, aber  das Kriegsglück kann sich ändern. Dazu schreibt Nicole Deitelhoff, Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Frankfurt am Main, über Putin im Allgemeinen: „Die entscheidende Frage ist daher, was ihm im Falle einer drohenden Niederlage wichtiger erscheint: sich irgendwie wieder mit der internationalen Gemeinschaft zu verbinden, oder.“ nicht als völliger Verlierer vom Feld zu gehen und deshalb sogar Atomwaffen einzusetzen. Auch wenn Letzteres meiner Meinung nach ein unwahrscheinliches Szenario ist, sollte man es nicht zu schnell ausschließen, denn es bleibt möglich.“ (Blätter zur deutschen und internationalen Politik, „Gespräche unter Feinden“, 12'22, Seite 50.) Wie man russischen Blogern entnehmen kann, die den Angriffskrieg Russlands unterstützen, können sie sich vorstellen, dass im Falle einer drohenden Niederlage Russlands, Atombomben auf London oder Berlin eingesetzt werden... 

 
Deitelhoff zieht eine Parallele zur Kubakrise von 1962, die heute genauso gefährlich sei wie damals, und thematisiert die Vorstellung vieler Menschen, Russland zur Kapitulation zwingen zu können. „Meiner Meinung nach“, schreibt sie, „ist dies kein wahrscheinliches Szenario: Große Atommächte kapitulieren nicht, sie ziehen sich nur zurück, wenn sie in einem asymmetrischen Konflikt keinen Erfolg haben. Die Sowjetunion zog sich 1989 aus Afghanistan zurück, die USA 2021.“ und 1973 mussten die USA Vietnam sieglos verlassen. Ist der Gegner hingegen gleichberechtigt, dann kommt es im besten Fall zu Verhandlungen, im schlimmsten Fall zu eingefrorenen Konflikten, aber keiner Kapitulation. Deshalb geht es jetzt erst einmal darum, Gespräche anzubahnen und aufzunehmen, es gibt auch noch keine Verhandlungen. Deitelhoff: „Entscheidend werden dabei die Kontakte und Gespräche zwischen Russland und den USA als den beiden zentral beteiligten Großmächten sein.“ "

Ob, wie und wann dies geschehen wird, ist derzeit unklar. Unterdessen geht der Krieg erbittert weiter. Nun sollen demnächst aus dem Westen Raketen für die Ukraine geliefert werden, Weitere Panzer dürften bald wieder folgen. Die NATO ist offensichtlich bereit, die Ukraine weiter aufzurüsten und wird damit ob sie will oder nicht, objektiv zur Kriegspartei - was die Propaganda Russlands weidlich ausnutzt -, auch wenn dies nach internationalem Recht juristisch umstritten ist. Fakt ist: Nahezu der gesamte Staatshaushalt der Ukraine wird vom Westen finanziert, vor allem von den USA. Wie lange dies anhalten wird, ist ungewiss. Die Republikaner haben bereits angekündigt, dass sich dies mit dem nächsten Wahlsieg ändern könnte. Auch in der EU können nach Melonie, die sich augenblicklich "zahm" gibt, weil sie EU-Gelder braucht, weitere Wahlsiege faschistischer oder in diese Richtung tendierende Parteien, bald auch in Frankreich (oder gar auch in Deutschland?) an Boden gewinnen. Putin hat also Zeit, nach dem Motto:

 

„Kommt zu den Waffen“ – niemand darf aber Krieg sagen...
 
Innenpolitisch ist die „Zeitenwende“ in Deutschland nicht weniger brisant, auch wenn die neue Regierung durch diverse drastische Maßnahmen nicht unklug gehandelt hat. Dennoch ist die Inflation für weite Teile der Bevölkerung ein großes Problem, nicht zu vergessen, die Streitereien, wegen des Heizungsgesetzes, was durch eine beispiellose Kampagne der Springerpresse ideologisch aufgepeitscht wurde. Einen „heißen Herbst“ gab es zunächst nicht, aber die Zustimmung zur in weiten Teilen faschistischen AFD wächst. Albrecht von Lucke von der Redaktion der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ leitet seinen Kommentar in der ersten Ausgabe 2023 mit den Worten ein: „Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Dieser Sponti-Spruch aus den 1980er Jahren könnte der passende Kommentar für den Jahreswechsel 2022 und 2023 sein, wenn uns die Ironie nicht schon vor 10 Monaten ausgetrieben worden wäre. Allzu oft war in den letzten Jahren von einem „annus horribilis“ die Rede, doch das Horrorjahr 2022 stellte – zumindest aus europäischer Sicht – das davor deutlich in den Schatten.“

 
Auf die bekannten Probleme gehe ich hier nicht näher ein: Klimawandel, der zunehmende Faschismus der AfD, die Schwankungen der CDU/CSU, zwischen Merkelismus und Rechtsradikalismus, sicherlich unter dem Druck der AfD usw. Jeden Tag erfährt man in den seriösen Medien – die dubiosen Medien machen das sowieso! – ein Horrorkarussell der gesellschaftlichen Realität, das bei vielen Menschen zumindest ambivalente Gefühle auslöst, von denen nur absolut fröhliche, ignorante Leute oder konsequente Pessimisten verschont bleiben. Entscheidungen müssen auf die eine oder andere Weise getroffen werden. Das ergibt sozialpsychologisch in weiten Teilen der Bevölkerung eine ambivalente Grundhaltung als Zeitphänomen. Sicherlich eine treibende Kraft  meiner Kunst. (Diesen Link sollten Sie beachten.)

 
Norbert Ernst Herrmann

  21. September 2023

 

Das Manifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, das rund 500.000 Menschen in Deutschland unterzeichnet haben, die große Demonstration in Berlin, kann hier nachvollzogen werden:

 

https://www.change.org/p/manifestfuerfrieden-aufstandfuerfrieden
 
Warum ich den Aufruf nicht unterzeichnet habe: Als staatlich anerkannter Kriegsdienstverweigerer, der 1968 vor seiner Anerkennung ein Jahr  in einer Panzereinheit der Bundeswehr und auch im Gefängnis war, bin ich trotzdem  kein bedingungsloser Pazifist. Ich stimme dem Historiker und Politikwissenschaftler Herfried Münkler zu, der sagte: „Die Vorstellung, dass man Frieden schaffen kann, indem man ‚Frieden‘ schreit, ist für mich abstoßend.“ (Frankfurter Rundschau, 15. Februar 2023, Seite 22)

Auch Olivia Mitscherlich-Schönherr, Professorin für philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzthemen des Lebens, findet das Manifest zu kurzsichtig. Davon müsste sich ein kluger Pazifismus abgrenzen: „Es reicht nicht aus, den Tod von über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten, Vergewaltigungen und Traumata anzusprechen.“ (...) Zuallererst muss der russische Völkerrechtsbruch klar benannt sein.“

 

Der Philosoph Jürgen Habermas hat sicherlich recht, wenn er in seinem neuen Artikel in der Süddeutschen Zeitung vor den Gefahren eines Weltkriegs warnt, denn die Waffenlieferungen haben eine nicht zu unterschätzende Eigendynamik und spricht von einem „Schlafwandeln am Rande des Krieges“. der Abgrund“ (siehe Frankfurter Rundschau, 16. Februar 2023, Artikel von Michael Hesse, Seite 29) Die Unwägbarkeiten sind sicherlich enorm. Aber es fügt dem bisher Gesagten keine neue Qualität hinzu. Putin und seine Clique müssen erkennen, dass sie mehr zu verlieren als zu gewinnen haben, wenn der Krieg weitergeht. Und dies ist nur möglich, wenn die ukrainische Armee ausreichend bewaffnet ist, was aber unbedingt an Bedingungen geknüpft sein sollte. Bisher hielt sich die ukrainische Regierung daran... 

 
Norbert Ernst Herrmann

   21.September 2023