Fotos: Gretel Kawohl-Herrmann, Norbert Herrmann

 

Als es bei uns herbstlich wurde 2015, fuhren meine Frau und ich nach Italien, Florenz,  - natürlich besuchten wir die Uffizien! (siehe oben) -, der Abschluss war die Amalfiküste mit Blick auf Capri.

An der Amalfiküste hatten wir uns 600 Meter über dem Meer eingemietet. Mit Blick auf das Meer, verfasste ich folgenden Text:

Zum Ambivalenzbegriff meiner Kunst, seine Genese, seine Aktualität.

 

Der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlicka wurde einmal gefragt, was ihn zu seinen oft politisch zu interpretierenden Skulpturen und Plastiken bewegen würde und er antwortete lapidar: „Ich lese Zeitung.“

In diesem Sinne sind alle Kunstschaffenden, wie nahezu jeder Mensch unseres Kulturkreises, mehr oder weniger in das Geschehen ihrer Zeit involviert. Je nach Temperament, Weltanschauung und Sensibilität geben sie diesem direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst Ausdruck, was sich selbst in der Abwendung von allem Weltgeschehen Geltung verschaffen kann, - ohne Zweifel nicht muss!

 

Die Kunst ist jedenfalls in unserem heutigen Verständnis und unserer Gesellschaft frei, hat aber durch ihren Zeitbezug eine ihrer herausragenden, gesellschaftlichen Funktionen, die natürlich durch sachkundige Interpretation transparent gemacht werden kann, was aber auch nicht zwangsläufig ist. Von selbst ist Bildende Kunst dazu kaum in der Lage. Was wohl als erster Giorgio Vasari (1511 – 1574), Maler, Bildhauer und Architekt, und planerischer Schöpfer der Uffizien in Florenz begriff, in dem er die Geschichte der Renaissancekünstler schrieb, „die unsere Sicht auf die Kunst bis heute prägt.“ (siehe Zeit-Magazin Literatur, Nr. 41, Oktober 2015, S. 54 ff).    

 

Die Anfänge meiner künstlerischen Bemühungen liegen in den elementaren Wahrneh-mungsweisen von Grundformen, wie ich sie schon während meines Kunststudiums in Form von Grafiken entwickelt habe und intensivierten sich später durch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Werk von Victor Vasarely (siehe hier: Wie alles anfing...) Seinem Hauptwerk, das durch ambivalente, visuelle Kippformen geprägt ist und dem er einen universellen, planetarischen Sinn zusprach, wollte ich dagegen eine eher „irdische, gesellschaftliche Dimension“ durch eigene Werke eröffnen. Nicht zuletzt durch die Lektüre des französischen, marxistischen Soziologen Henry Lefébvre ( siehe hier: Literatur, die mich beeindruckte...), der durch seine fulminante  „Kritik des Alltagslebens“ und  einen luziden, philosophisch geprägten Ambivalenzbegriff in den Diskursen von vielen, geisteswissenschaftlichen Seminaren der 70/80iger Jahre der Heidelberger Universität großen Eindruck auf mich machte. Dort studierte ich nach dem Kunst- und Designstudium im Hauptfach Erziehungswissenschaften und Psychologie im Nebenfach und nahm an der ausklingenden, linken Studentenbewegung aktiv teil. Einige Plakate, die von mir stammen und die ich im Auftrag des Heidelberge AStA`s gestaltete, sind auf meiner Homepage unter der Rubrik „Mein Rotes Jahrzehnt“ – vielleicht in eigenem Fenster aufmachen? -, zu sehen, wo ich eine allgemeine Einschätzung meiner Heidelberger Jahre verfasst habe.

 

Doch in meiner Heidelberger Zeit war ich nicht primär als Gestalter tätig. Konnte aber durch verschieden Studien, u.a. durch das Kennenlernen vieler Schriften des Gestalt- und Kunsttheoretikers Rudolf Arnheim die Grundlagen meiner eigenen Kunstvorstel-lungen neu bestimmen. Schon als Kunststudenten gründeten wir in Mannheim in einem Ladenlokal 1971 eine „Werkstatt-Galerie“, in der wir Ausstellungsbetrieb und Sieb-druckanlage vereinigten. Die Eröffnungs-Ausstellung war sehr gut besucht, fand auch in der Presse ein positives Echo. Ich stellte fünf Offsetgrafiken aus ( das Erlernen vom Offsetdruck-Verfahren war für Design-Studierende damals Pflicht) und versah sie mit einem aktuellen, politischen Bezug. „Gegen das Einreiseverbot für Ernest Mandel“, schnitzte ich in einen Linoldruckstock (leider verschollen) und druckte ihn seitlich über die Grafiken und Passepartouts. Der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher von der FDP erteilte nämlich dem belgischen Ökonomen Prof. Ernest Mandel und führendem Mitglied der trotzkistischen Internationale ein Einreiseverbot in die BRD. Was zeigt, dass die Frage der Revolution in Westeuropa - zwar weniger in breiten Kreisen der Bevölkerungen -, aber in intellektuellen Zusammenhängen und Universitäten damals durchaus aktuell war (nicht nur dort!). Was offensichtlich den "Herrschenden" einiges Kopfzerbrechen machte, was im Zuge der Jugend-und Studentenrevolte, auch im Nachhinein wohl noch erklärbar ist...Es gab, wie man wissen kann, nicht nur die RAF, falls das jemanden interessiert, die wir übrigens zu tiefst verachteten. Jean Paul Sartre sagte jedenfalls im Anschluss eines Gesprächs im Stammheimer Gefängnis mit Andreas Baader kopfschüttelnd, dass dieser wohl ein Schwachkopf sei...Das sahen wir genau so. Was den Staat natürlich nicht daran hinderte, gegen die gesamte Linke vorzugehen, - siehe repressive Maßnahmen gegen viele Schriftsteller sowie Berufsverbote für Beamte!

 

Meine Kunst entwickelte sich jedenfalls aus diesen ideologischen Zusammenhängen heraus und ist in letzter Zeit geprägt von verwirrenden Flächenkonstellationen, was den Turbulenzen und dem Durcheinander der Welt assoziativen Raum gibt und durch paradoxe Schattenbildung von Wahrnehmungsformen anschaulich in Spannung versetzt wird (siehe hier: Ausstellung in Karlsruhe). Ich will dadurch meine widersprüchlichen Empfindungen in allgemeiner Form Ausdruck geben: Angesichts von verheerenden Kriegen, dem Zerfall von Staaten, dem Versuch von oft militärisch expansiven Staats-gründungen (IS) und den Aktionen von Staaten, dieses Treiben militärisch zu bekämpfen, dem unberechenbaren, intenationalen Terrorismus weltweit, von gigantischen, internationalen Kapitalbewegungen, die durch Börsenaktionen ganze Regionen der Welt ins Elend stürzen, aber auch durch Kapitalkonzentrationen wichtige Felder gesellschaftlichen Lebens eröffnen können - kurz: den heutigen krisenhaften, risikoreichen Entwicklungen der Globalisierung, die massenhafte Flüchtlingswellen aus Armuts- und Kriegszonen erzeugen, welche nicht zuletzt Europa vor eine nie gekannte Herausforderung stellt. Was tun?

 

Mein durch Henry Lefébvre geprägter Ambivalenzbegriff, geht nicht von einer total negativistischen, dystopischen Sicht der Dinge aus, sondern von Vor – und Nachteilen von Entwickungen, die allerdings verschärfte Maßnahmen in politischer, wirtschaftlicher und nicht zuletzt ökologischer Hinsicht verlangen, um Katastrophen weltweiten Ausmaßes entgegen zu wirken. Um letztlich Homo Sapiens in der Evolution - sie ereignet sich mit oder ohne uns! - eine Zukunft zu ermögichen. Was durch die katastro-phischen Turbulenzen des Klimawandels alles andere als sicher gilt. Dies wird die Herausforderung des 21. Jahrhunderts und der folgenden werden, deren Zeugen und Akteure wir am Anfang dieses Jahrhunderts sind...Man bredenke: Die Renaissance ist "erst" etwa 500 Jahre her. Und gewiss muss die Menschheit lernen, die negativen Folgen von Religionen und Ideologien jeglicher Weise, abzuschütteln. Jedenfalls so abzumildern, dass sie für Einzelne und Kollektive nicht so mörderich werden können, wie sie es aus heutiger Sicht sind...Ein weites Feld...Die Orientierung an den Menschen-rechten wird jedenfalls für das Überleben der Gattung unabdingbar sein.  

 

Was die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa betrifft, spricht der französische Philosoph Ètienne Balibar in einem Artikel von der „Stunde der Wahrheit“ ( Die ZEIT,  8.10. 2015, Nr. 41, S. 54) für den Kontinent, der sich demokraphisch erweitern und politisch neu definieren müsse.

Wir seien an einem Punkt, schreibt der Philosoph „an dem wir das historische Ausmaß des Ereignisses erkennen müssen, mit dem die „Gemeinschaft“ der europäischen Nationen konfrontiert ist. Getrost können wir Bundeskanzlerin Angela Merkels Prognose – „Was wir jetzt erleben, wird unser Land verändern“ – übertragen: Es wird Europa verändern. In welche Richtung jedoch, das ist noch nicht entschieden (…). Im Unter-schied zu früheren Erweiterungen wurde diese nicht vorbereitet und ausgehandelt; sie wird uns vielmehr durch die Ereignisse im Modus eines „Ausnahmezustands“ aufge-drängt. Stärker noch als jede frühere ist die jetzige Erweiterung eine enorme Heraus-forderung, die politisch radikal umkämpft bleiben wird (…). Vor allem ist dies keine territoriale, sondern eine demokrafische Erweiterung.“ (ebda).

 

Balibar plädiert für ein europäisches Einwanderungsrecht, „das allerdings nicht ohne starke politische, soziale und möglicherweise gewaltsame Konfrontationen sich ereignen werden (…). Es ist zweifellos ein „Wunder“, wie Josef Joffe in der ZEIT schrieb, dass ein so großer Teil der deutschen Bevölkerung den syrischen Flüchtlingen helfen will. Nicht weniger bezeichnend ist es aber, dass sich die CSU-Führung offen von der Regierungspolitik distanziert, bis hin zum Schulterschluss mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán und dass die FAZ verkündete, die osteuropäischen Länder hätten recht (…). Was sich in Wirklichkeit gerade in Europa herausbildet , ist eine transnationale Front der Ablehnung von Flüchtlingen, in der die offen rassistischen Gruppen nur die Spitze des Eisbergs darstellen (…). Wie es scheint, wird das Europa der Solidarität nicht um einen politischen Kampf herumkommen, der mit der kompromisslosen Verurteilung der Gewalt gegen Migranten beginnt und mit den Forderungen nach einer Veränderung der Aufnahmebedingungen weitergeht. Es ist dieser politische Kampf, der die Europäische Union am tiefgreifendsten verändern dürfte (…). Es ist höchste Zeit, dass sich in allen Ländern, Menschen, die sich der Bedeutung der Gefahren und der Möglichkeiten des historischen Augenblicks bewusst sind, zusammenschließen und ihre Anstrengungen verdoppeln, um Einheit, Solidarität und Gastfreundschaft zum Durchbruch zu verhelfen.“ (ebda)

 

Kunst wird sich also den tiefgreifenden Geschehnissen ihrer Zeit nicht entziehen kön-nen, obwohl ich nicht dazu neige ihre Möglichkeiten in zu direkter Form zu überdehnen, sind wir als Künstler und Bürger trotzdem gefordert eindeutig Stellung zu beziehen, - in welcher Form auch immer!

Auch einige der jüngere Generation von Literaten, wie z-B. Jenny Erpenbeck, Ulrich Peltzer und Ilija Trojanow plädieren für eine stärkere Politisierung der Literatur, die seit den 90iger Jahren rapide abgenommen hat. (Siehe ZEIT-Literatur, Nr. 41, Oktober 2015, Gegen die herrschende Klasse, S. 4ff). Wie Ulrich Peltzer im Interview  resümiert: „Wenn man sagt: „Es ist alles so komplex, dann sage ich: Nein, das stimmt nicht. Es gibt Verantwortlichkeiten (…). Das Direktorium der Welt, das sich im Hinter-zimmer trifft, das gibt es nicht. Aber es gibt Profiteure, und es gibt Leute, die Verant-wortung tragen, und es gibt Leute, die gut leben, und solche, die weniger gut leben. Und es gibt Gründe dafür“ (ebda). Was sich seinem Buch „Das bessere Leben“ (S.Fischer Verlag) in der Interaktion der Protagonisten abspielt, sind nichts anderes als zeittypische Ambivalenzerfahrungen einer jungen, berufsaktiven Generation, die vom Studium her „alle noch getrieben vom utopischen Denken (waren). Jetzt arbeiten sie für globale Konzerne und jetten durch die Welt. Aber die Sinnfrage lässt sie nicht los.“ (ebda, S.9)

Das Wesentliche an Bildender Kunst ist ganz ohne Zweifel seine Möglichkeit der polaren, ambivalenten Interpretation, was auch über die jeweils aktuelle Zeit hinaus wirken kann. Wie  ich an anderer Stelle schon ausgedrückt habe ( siehe hier: Meine Kunst ), eröffnen bislang für mich abstrakte Flächenkonstellationen die Möglichkeit visuelle Spannungsverhältnisse und Entwicklungen auszudrücken, die zu Sinnfragen und psychischen Resonanzen einladen, welche den allgemeinen Ereignissen unserer Zeit Ausdruck geben, so wie ich sie empfinde. Die Frage von mehr allgemein gesellschaftlicher oder mehr privatistischer Erfahrung ist dabei ohne Belang, weil doch alle Strukturen von Sinn - alles was passiert und uns möglicherweise beeindruckt! - durch uns als Individuen gewissermaßen hindurch gehen und je nach Weltanschauung, Bildung, Sensibilität und Zeitpunkt, jeweils unterschiedlich interpretiert werden. Das ist der Fluch, aber auch der Segen von Kunst. Und ist in ihrem "Sosein" in Kauf zu neh-men, denn völlig "eindeutige" Kunst ist ein Graus und gibt es wahrscheinlich garnicht. Und wenn, dann ist sie sehr wahrscheinlich schlecht. Aber über die Frage von guter und schlechter Kunst, werde ich mich zu gegebener Zeit noch befassen.

 

Norbert Herrmann,

An der Amalfieküste,

17.Oktober 2015,

geringfügige Änderung:

20.November 2018,

weiter durchgesehen:

07.11.2020