Philipp Blom, 1970 in Hamburg geboren, studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxfort. Er lebt als Schriftsteller und Historiker in Wien. 

Das Interview erschien in der Frankfurter Rundschau am 22.Dezember 2017, die Fragen stellte Michael Hesse. Hier ein Auszug:

 

Frage: Wenn wir uns die 20iger Jahre ansehen: Gibt es für uns Gefahren in Richtung des Faschismus?

 

Das ist nicht so sehr eine Frage von historischen Parallelen, sondern von sozialen Strukturen. In der Nachkriegszeit war es in Europa aus dem Trauma des Zweiten Weltkriegs heraus eine absolute Priorität, eine große soziale Ungleichheit zu vermeiden, relativ transparente und dynamische Gesellschaften zu schaffen, in denen man durch Bildung und Arbeit aufsteigen konnte, sich international zu vernetzen und sich nicht national zurückzusetzen. Frieden immer als besser anzusehen als Krieg. Drei Generationen danach scheint dieses Trauma die Politik nicht mehr zu bestimmen. Das hat verschiedene Konsequenzen.

 

Nämlich welche?

 

Darunter eben auch die, dass alte Ideen von Neuem salonfähig werden.(...) Im Moment wenden sich viele Menschen von der Demokratie ab als Gesellschaftsorganisation und als Herrschaftsprinzip. Weil sie finden, dass diese Demokratie ihnen nicht mehr dient, dass die Grundversprechen der Demokratie gebrochen werden, dass es eben nicht mehr so ist, dass man durch harte Arbeit aufsteigt. Die Menschen sehen, dass sie scheinbar ohne Grund entlassen werden, dass ihre Arbeit bedroht ist. Wer sich bildet, bekommt noch längst keinen Job und hat keine Zukunft. Dass Menschen in einer solchen Situation sagen: Dieses System funktioniert nicht mehr für mich, ich muss nur noch für dieses System funktionieren, scheint mir rational zu sein. (...) 

 

Das hat Folgen.

 

Die Schlussfolgerung, dass der Rückzug in den Nationalstaat oder die Ausweisung aller Migranten die Lösung sein soll, die scheint mir hingegen falsch zu sein. Aber die Tatsache, dass in vielen Ländern seit den 80iger Jahren die Löhne für Facharbeiter stagnierten, während zur gleichen Zeit immer reicher werdende Milliardäre in den Statistiken auftauchen. Das ist ungerecht. Menschen sind nicht blöd, die sehen das.

 

Das beschreiben Sie in ihrem Buch: "Was auf dem Spiel steht" - es gibt eine Ungleichzeitigkeit: Einerseits eine enorme Modernisierung, andererseits der Wunsch nach Rückkehr in die gute alte Zeit?

 

Die Ambivalenz wohnt der Moderne inne. Ob es die industrielle, intellektuelle oder urbane Moderne ist, sie funktioniert durch dauernde Transformationen und Veränderungen. Sie reißt fortwährend das Alte weg und setzt das Neue hin. Das belastet und überlastet viele Menschen, gerade die, die sich nicht als Gewinner dieser Entwicklung sehen. Es sind Menschen, die sehen, dass alles mögliche von ihnen verlangt wird, sich weiterzubilden, auch in anderen Städten zu arbeiten, sich nicht darum zu kümmern, wo sie herkommen und was ihre Familie braucht, sondern den Gesetzen des Marktes zu gehorchen. Dieser Zwang zur Dynamik überfordert die Menschen. Es gibt dieses Gegenbild frei nach Jean-Jacques Rousseau: Die Rückkehr in die einfache Tugendhaftigkeit.

 

Was bringt die Rückkehr in die Einfachheit?

 

Ich will die politische Landschaft besser verstehen und beschreibe es daher als einen Konflikt zwischen Markt und Festung. Auf der einen Seite das Gesellschaftsprinzip des Marktes, das in seiner schönsten Ausprägung die Agora ist, ein offener Raum, in dem sich Menschen treffen und Güter, Dienstleistungen und Ideen friedlich austauschen. Aber es kann eben auch der neoliberale Markt sein (Hervorhebung von N.Herrmann),

in dem die meisten Menschen zum Nutzen der wenigsten Menschen arbeiten, in dem jede Idee ökonomisiert und auf ihre Rentabilität und Quantifizierbarkeit geprüft wird. In der Gesellschaften nur nach ihrem Bruttoinlandsprodukt beurteilt werden. Das ist ein sehr kalter Ort. Die Sehnsucht nach der Rückkehr in die Festung, wo man weiß, wer man ist und wo man hingehört und wo die Unruhestifter oder Menschen, die anders sind, einfach rausgesetzt werden, und wo man seine eigenen Probleme selbst lösen kann, scheint ein attraktiver Gedanke zu sein. Es ist ein zerstörerischer Gedanke. Aber es ist eine Antwort auf den unbarmherzigen globalen Markt.

 

Hat der globale Markt aber nicht auch Millionen von Menschen aus der Armut befreit?

 

Ich glaube nicht, dass es der globale Markt selbst ist, obwohl es auch damit etwas zu tun hat. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass unsere reichen, stabilen Gesellschaften nicht das Produkt der westlichen Tugenden und eines inhärenten hegelianischen Fortschritt der Geschichte sind, sondern auch ein Produkt der Ausbeutung anderer Menschen, sowohl bei uns als auch woanders. Westliche Länder haben es sehr erfolgreich geschafft, alles was an ihnen hässlich ist, an die Peripherie zu verdrängen. Wir führen immer noch Kriege, aber jetzt in Afghanistan oder Irak, wir verschmutzen immer noch die Umwelt, aber nicht mehr in Europa; wir benutzen immer noch Produkte, die mit Sklavenarbeit hergestellt werden, aber jetzt in Südostasien. Diese Probleme haben im Zuge der Globalisierung Beine bekommen. Die Menschen dort überlegen sich, dass sie das nicht erleiden wollen und lieber da hin gehen, wo es besser für sie ist. Das ist eine Bewegung, der wir nicht Herr werden können. Vor allem dann nicht, wenn wir auf Kosten anderer leben.

 

Auch auf Kosten unserer Erde?

 

Wir haben gelernt, was passiert, wenn wir und die Erde ernsthaft zum Untertan machen. Wir haben gelernt, dass die Erde irgendwann zurückbeißt (...). Jetzt schon sagen Wissenschaftler, das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens haben wir bereits verpasst. Steigen die Temperaturen noch mehr, sind die Folgen katastrophal. Nicht für den Planeten, sondern für unser Überleben.

 

 

An dieser Stelle breche ich den Auszug ab. Es ging mir

um die Formulierung der aktuellen Tendenzen unserer Zeit,

wie sie phänomenologisch in ihrer Ambivalenz analysiert

werden können, im Hinblick der Auswirkungen in Politik

und Alltag.

 

Norbert Herrmann

22.Dezember 2017,

geringfügig korrigiert

am 09.11.2.2020