Zum 25. Jahrestag der Maueröffnung der DDR am 9.November 2014 und die Frage vom "Unrechtsstaat"...

Gretel riss die Tür zum Atelier auf und rief: „Norbert, schnell! Im Fernsehen wird gezeigt, wie die Mauer geöffnet wird…unglaublich!“ Der Pinsel flog ins Wasser und wir stürzten durch den dunklen Garten hoch zum Fernseher im Wohnzimmer. Wir sahen die feiernden Menschen in Berlin, die sich überschlagenden Meldungen, die Reportagen, die Interviews mit fassungslosen Leuten, ein Bundestag der die Sitzung unterbrach und unisono „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sang, - wir waren berührt und stumm. Wunderte uns das? Keineswegs, denn wir waren zufällig im August 1989 vierzehn Tage in der DDR und bekamen damals schon so etwas wie Aufbruchsstimmung mit. Dieser Aufenthalt, den wir, Gretel, meine Frau und ich, nie mehr vergessen werden, sei hier kurz geschildert:

 

Wir hatten keine Verwandtschaft in der DDR und so freuten wir uns eine Freundin von Gretel mit ihrer kleinen Tochter zu deren Schwiegereltern in der DDR begleiten zu dürfen. Diese wollten ihre zweijährige Enkelin der Verwandtschaft zeigen und luden uns unbekannterweise herzlich ein, auf einen Campingplatz in der Nähe von Karl-Marxstadt, dem heutigen Chemnitz, wo sie uns zusammen in einer netten Hütte unterbrachten. Wir fuhren in unserem PKW und absol-vierten das Prozedere an der Grenze in Hof ohne Probleme.

Das Willkommen auf dem

Campingplatz war außerordentlich herzlich, eigentlich war schier der ganze Campingplatz auf den Beinen um uns Wessis zu bestaunen. Die Schwiegereltern hatten eine große Tafel unter hohen Bäumen vorbe-reitet, ganz in der Nähe des plätschernden Flusses, wo gegenüber sich schöne Berge türmten. Die gesamte Sippe nahm Platz, man stellte sich vor, alles sehr förmlich und höflich und wir hatten natürlich die Ehrenplätze. Es wurde aufge-tragen, was das Herz begehrt – im Laufe dieser ereignisreichen Tage erfuhren wir betroffen, dass der Schwiegervater nachts wegen den Rouladen, usw. wochenlang in Geschäften anstand -, es wurde geschlemmt und nicht zuletzt gut gelaunt den Genüssen des Alkohols zugesprochen.

Gewiss waren die Verwandten ebenso neugierig auf uns, wie ihre Blicke zeigten, wie wir auf sie, was wohl unsere Blicke ebenso zeigten. Man unterhielt sich zurückhaltend und gesittet. Irgendwie hatte ich das Gefühl in einer offiziellen Delegation zu sitzen. Die meisten waren in unserem Alter oder jünger, viele waren als Ingenieure, Männer und Frauen, in leitenden Funktionen tätig, wie sie sagten, gewiss auch in der SED, vermutete ich mal. "Aha, sie sind Künstler, auch Designer", der eine oder andere hatte gute Kontakte durch den Betrieb mit Werbung. Aha, das machen sie auch? Also ähnlich wie bei uns. Kann sein, antwortete ich zurückhaltend und lobte das gute Design, auch die Leipziger Schule in der Kunst, Sachen, die ich aus Büchern kannte.   

 

Mit den Schwiegereltern und allen anderen waren wir schnell per Du – die Oma hieß Elfriede, der Opa Fritz - und so traute ich mich irgendwann mit dem Löffel an das Glas zu klopfen, mich zu erheben und mich im Namen der Westdeutschen zu bedanken für den lieben Empfang und die Gastfreundschaft. Und fügte einige Worte über die aktuelle Politik an, insbesondere über Gorbatschow, seiner Perestroika und Glasnost, was bei „Eurem Honecker“, wie ich spöttisch unter allgemeinem, verstohlenem Gekicher anmerkte, aber offensichtlich offiziell nicht so gut ankommen würde. Schweigen.

„Was haltet Ihr eigentlich davon", setzte ich mutig nach," wenn wir - die BRD als Staat - das sage ich als einfacher Bürger der BRD - nicht, dass ihr denkt, ich sei ein geheimer Unterhändler (Lachen) -, die DDR völkerrechtlich absolut anerkennen würden, als Druckmittel, dass die DDR mit oder ohne Honecker die Gorbatschow-Reformen auch wirklich einführen würde, was meint Ihr?“ Dies war damals, wenn ich nicht irre, die politische Haltung der Grünen im Bundestag. Schweigen.

 

Allen schien der Bissen im Mund stecken geblieben zu sein. Der eine oder andere trank einen Schluck aus seinem Glas. Es wurde gehüstelt. Umstehende Leute, die nicht zur Sippe gehörten, aber auch irgendwie mitfeiern wollten, hielten erschrocken die Hand vor den Mund, Frauen vor allem. Männer schauten stumm und unsicher, mit etwas stieren Augen.

 

Da erhob sich Fritz, der Schwie-gervater räuspernd, sah mir in die Augen, lachte, und machte zu mir eine beruhigende Handbewegung, das sei schon o.k., was ich sagte, er liebe offene Worte, schaute dann ringsum und rief mit fester Stimme: „Das kommt ja überhaupt nicht in Frage! Das hieße ja, einen Unrechtsstaat anzuerkennen: "Niemals!“, rief er. Ich war beein-druckt, setzte mich und sofort ging ein wahrer Sturm des Diskutierens ringsherum los, es war wunderbar, alle strahlten und sprachen aus innerstem Herzen, alles aus was sie offensichtlich schon lange sagen wollten, was bis weit in die Nacht anhielt und schier mein ganzes Weltbild umwarf. Samt jeder Menge Flaschen, die morgens bis zum Fluss aufgereiht standen, dann umfielen, den Hang herunterkullerten und viele dann langsam abrutschend den Fluss hinabtrieben.

 

Bisher dachte ich, dass es so etwas wie eine „DDR-Identität“ mehrheitlich gäbe. Ich selbst war seit meinem bewussten, politischen Leben als Linker immer in der Opposition - als 68iger sowieso! Mit all den Kämpfen, individuell als Kriegsdienstverwei-gerer, auch ansonsten politisch aktiv - aber dennoch BRD-Bürger, wenn auch ein oppositioneller, in meinem Selbstverständnis. So dachte ich, sei es auch ähnlich in der DDR. Durch Fritz wurde ich eines besseren belehrt. Keiner an der Tafel bekannte sich eindeutig zur DDR als einem souveränen Staat. Jedenfalls traute sich das keiner offen zu sagen in dieser Runde. Alle nickten stumm, als Fritz die DDR als Unrechtsstaat bezeichnete. Noch schlimmer: Wir Linken in der BRD dachten damals, die Ökonomie der DDR sei stabil, schließlich an Wirtschaftskraft das führende Land des Ostblocks, nach der UDSSR. Sagte jedenfalls die Statistik!

 

 

 

Die anwesenden, etwa gleichaltrigen Verwandten, wie gesagt Führungs-kader, schüttelten traurig den Kopf über meine Ausführungen. Die Wirtschaft der DDR sei bankrott. Alles Lug und Trug. Ich war fassungslos. Das hatte ich nicht erwartet und verlangte Beweise. Die Führungskader erklärten auch genau wie es funktionierte: Alle meldeten falsche Zahlen, das wusste jeder informell, alle machten das, nach oben hin, so wurde das Zahlenwerk sozusagen immer formeller, aber so wusste die Wahrheit immer weniger Leute in der Führung, was ein Umdenken schon lange unmöglich machte. „Der Honecker weiß schon lange nicht mehr in welcher Welt er lebt“, lachte der Betriebsleiter eines Kombinats. „Und was machen wir nun?“, fragte ich. „Wir?“. Viele schauten bekümmert ratlos, aber ebenso viele lachten und machten schnapstrinkend Witze über sich selbst und uns Naivlinge im Westen. Freuten sich aber über die persönliche Anteilnahme unserer-seits, und endlich auch mal die Wahrheit öffentlich sagen zu können. Ich hatte das Gefühl auf einem sinkenden Schiff zu sitzen.

 

An nächsten Tagen wurden die Gespräche fortgeführt und ich erkundigte mich, ob die Verwandt-schaft keine Angst vor Repressalien hatte, so frei wie sie sprach. Fritz lachte, was will man mir als über 75jährigem anhaben? Und die Verwandtschaft? Sind doch selber alles Leute in Chefetagen, sagte er. Denen tut keiner was, dann würde die DDR sofort zusammen brechen. Und er spottete beim Skat, den wir zusammen droschen, dass dieser und jener Kiebitz gewiss ein Spitzel sei, aber die hätten ja selber Angst. Er nicht mehr. Er könne ja mit Elfriede sowieso reisen, wohin er wolle. Und die anderen würden halt traurig leiden und auf das Rentenalter hoffen. „Ja habt ihr denn überhaupt keine, wenigstens kleine Hoffnung für euer Land?“ fragte ich.

Fritz sah mich spöttisch an und rief in die Menge, die dicht gedrängt unsere Skatrunde umlagerte und höhnte: „Ja was? Haben wir etwa noch eine  kleine Hoffnung für unser Land?“ Alles johlte und lachte, ja klar, iwo, Hoffnung, was für ein Wort, hat etwa jemand Hoffnung, meine Tochter ist in guter Hoffnung, das sei ja was, lachte einer usw., einschließlich der Kiebitze, hatte jeder zum Thema Hoffnung etwas beizutragen, aber Politik war nicht dabei. „Siehst du“, lachte Fritz, sah sich seine Karten an und bot mir verschmitzt 18, um dann das Spiel bravorös zu gewinnen.  

 

Mit Elfriede und Fritz machten wir Westdeutschen in unserem PKW schöne Ausflüge, nach Dresden und Umgebung. Dabei standen wir u.a. auch in einer Schlange, um in ein Restaurant eingelassen zu werden. Die Leute sahen sich verstohlen an und es wurde heimlich gewispert, indem man routinemäßig die Kinder ablenkte, dass die ersten DDR-Bürger über Ungarn abgehauen seien. Die Ungarn öffneten den Eisernen Vorhang! Da wussten wir, dass wir Zeitzeugen eines historisch einmaligen Vorganges waren.

 

Mit Elfriede und Fritz hatten wir noch lange Kontakt, spielten oft zusammen Skat bei uns zuhause im Kleinen Odenwald, da war die DDR schon lange der BRD angeschlossen, und machten sie auch mit meinen Eltern bekannt. Die hatten sich als Jahrgänge zwischen etwa 1915 und 1926 viel zu erzählen und die Freundschaft aller hielt sehr lange.

 

Mir persönlich wäre politisch eine echte "Vereinigung“ beider deutschen Staaten lieber gewesen, wie es auch das Grundgesetz als vorläufige Verfassung aller Deutschen vorsah. Es sah allerdings auch die Möglichkeit eines „Anschlusses“ vor, was damals sicher als „Gunst der Stunde“ zu nutzen, politisch nicht falsch war. Trotzdem hätten sich die Deutschen die Möglichkeit offen lassen sollen, über eine gesamtdeutsche Ver- fassung zu entscheiden. Dafür war ich damals politisch, andere auch. Doch das Internet steckte in den Kinderschuhen...und eine Koordination dieser politischen Auffassung kam in der allgemeinen Euphorie des nationalen Taumels nicht zu stande. Nun werden sich Fragen der Gerechtigkeit und alles Weitere über politische und soziale Kämpfe in Gegenwart und Zukunft eintscheiden...

 

Das letzte Wort überlasse ich zu diesem Thema meinem im Jahre 2000 leider verstorbenen Vater, der als damals schon lange verrenteter Vorarbeiter, aber noch mit so etwas wie Klasseninstinkt, zu Elfriede und Fritz sagte: „Wiedervereinigung? Nichts dagegen. Aber nun werden uns die Kapitalisten über die Politik alle zusammen das Fell über die Ohren ziehen, weil sie historisch nichts mehr zu befürchten haben…“ 

 

 

Norbert Herrmann

2014,

 

geringfügige Korrektur

21. August 2015